“New Retail” Ansätze und Formate schaffen wahre Marken-Abenteuer – und können auch unsere Innenstädte zu fokussierten Erlebnishotspots werden lassen
Text: Mathias Ullrich
Eine Innenstadt für Sportler:innen und eine für Gourmets? Eine für Fashionistas und eine für Outdoor-Fans? Eine für Familien? Für Kulturinteressierte oder für Tekkies? Wenn Städte – genauso wie Marken – Fokussierung wagen, dann haben sie die Chance, zu prosperierenden, attraktiven Orten zu werden. Dafür müssen sie aber auch wie Marken agieren.
Eigentlich ist es doch kein Wunder: Die One-size-fits-it-all-Ausstattung von Innenstädten hat ausgedient. Die immer gleichen Ladenketten in den Haupteinkaufsstraßen von Flensburg bis Füssen, von Dresden bis Duisburg machen die Stadtzentren auswechselbar und, pardon, langweilig. Sie wollen alle erreichen – und berühren niemanden mehr. Innenstädte präsentieren in ihren einstigen Prachtstraßen heute nur noch austauschbare Räume mit austauschbaren Angeboten.
Dass Austauschbarkeit unattraktiv ist, zeigt ein Blick auf Marken: Marken ohne klare Positionierung sind nicht erfolgreich. Marken, die allen gefallen wollen, sind nicht erfolgreich. Marken, die für nichts stehen, sind nicht erfolgreich. Und Marken, die langweilen, sind absolut chancenlos. Wären Städte also Marken, dann müsste dringend ein Relaunch her.
Unbestritten: Online-Handel und Corona-Pandemie sind mitverantwortlich für Kaufhaussterben und Ladenpleiten. Dass aber viele Menschen die Innenstädte nicht mehr besuchen, hat auch damit zu tun, dass sie dort nichts Erstaunliches, Überraschendes oder Interessantes erwarten. Von Abenteuerlichem mal ganz zu schweigen.
Hinzu kommt, dass sie ihr Kaufverhalten verändert haben: Kaum noch jemand geht in die Stadt, um sich ganz gezielt etwas zu kaufen. Wer weiß, was er will, kauft online. Auch wenn es um eine große Auswahl oder bequeme Preisvergleiche geht, ist der Online-Handel das Mittel der Wahl. Der Abverkauf ist längst kein Business mehr für die Handelsflächen in der Innenstadt, er funktioniert ja digital viel besser.
Und jetzt? Jetzt müssen sich Städte und stationärer Handel neu erfinden! Im Handel ist eine Bewegung entstanden, die sich als Segen für die Innenstädte erweisen könnte: der „New Retail“. Er sorgt dafür, dass die physische Handelsfläche künftig viel mehr ist als ein Ausstellungsraum für Produkte.
Mit dem „New Retail“ entstehen Markenräume und soziale Interaktionsflächen. Ab sofort geht es auf den ehemaligen Hardcore-Sales-Flächen um Erlebnisse, um Inspiration, um Begegnung und um die Zugehörigkeit zu einer Community. Mit dem „New Retail“ ändert sich die Art und Weise, wie Marken auftreten grundlegend – und das wird die Innenstädte verändern und sie zu quicklebendigen Orten machen.
Studio Odeonsplatz
Menschen zieht es in die Städte, weil sie dort andere Menschen treffen, Inspiration erleben und unterhalten werden. Für den Handel geht es nun also darum, Menschen in die Stores zu ziehen, um ihnen genau das zu bieten. Mit dieser neuen Zielsetzung ändern sich die Erfolgskennziffern des stationären Handels: Die Verweildauer schlägt den Umsatz pro Quadratmeter. Die Insights über die Zielgruppe sind wertvoller als der Absatz.
Der Store-Besuch fasziniert und begeistert, hier wird präsentiert und beraten, hier gibt es zum Produkt passende Services und einen Austausch mit anderen Konsument:innen, hier wird gegessen, getrunken und auch mal mobile Office-Arbeit erledigt oder Yoga gemacht. Gekauft wird später im Web. Der Online-Kanal dient der Transaktion. Der Store macht die Marke erlebbar und ist für ihre Zielgruppe der attraktive „place to be“.
Wie „New Retail“ bereits in der Realität funktioniert, zeigt das Studio Odeonsplatz von Mercedes-Benz. Hier erinnert nichts an ein Autohaus alter Schule. Der „Programmatic Brand Experience Space“ inspiriert Menschen mit fesselnden Inhalten, spannenden Events und einem abwechslungsreiches Szenenbild. Auf 400 Quadratmetern und zwei Stockwerken werden alle drei Monate neue Kampagnen mit anderen Kooperationspartnern präsentiert. So gibt es immer wieder einen guten Grund hinzugehen. Das Studio Odeonsplatz ist auf diese Weise Ort und Quelle für die Identifikation mit der Marke und zugleich Keimzelle für eine neue Community.
Gleiches gelingt Nike mit seinem Style Store in Seoul: Die ikonische Sportmarke bietet neben den Produkten ein Content Studio, in dem die Marken-Fans eigene Social Media-Inhalte erstellen, außerdem gibt es wechselnde Workshops und eine „Snkrs“-Lounge. Sie bedient die Bedürfnisse ihrer Zielgruppe punktgenau und exzellent. Der Store ist nicht bloß ein Einkaufsladen – er ist ein Entertainment-Hub, an dem Produkte, Wissen, Kunst und Kultur sowie Gemeinschaftserlebnisse immer wieder neu aufbereitet und markengerecht inszeniert sind.
Gucci geht mit seiner stylischen Café-Bar-Location Giardino 25 in Florenz noch einen Schritt weiter: Das Produkt ist nur Accessoire. Die Gäste erleben einen Interior gewordenen Marken-Lifestyle. Die opulente Ausstattung, die internationalen Cocktails und die eleganten Barkeeper spiegeln den Kern der Marke Gucci wider.
Mit dem “New Retail” wird die physische Fläche also zu einem multidimensionalen Identifikationsraum. Sie erfüllt neue Funktionen, wird zur Plattform für Influencer und Content-Gestaltung, zur Bühne für Events, Kunst und Kultur, zum Raum für wechselnde kuratierte Inhalte und Inspiration, zum physischen Touchpoint mit der Marke – und damit zum Attraktivitäts-Booster für die Innenstädte.
Hier schließt sich der Kreis: Die Attraktivität von Innenstädten steht und fällt mit der Attraktivität seiner physischen Handelsflächen – und umgekehrt. Wenn der “New Retail” in die Citys Einzug hält und damit Zielgruppen aktiviert, begeistert und inspiriert, dann sollten die Städte dasselbe tun, um ihrerseits Besuchsanreize zu schaffen.
Warum also nicht die Innenstadt wie eine Marke betrachten und sie einem Relaunch unterziehen? Warum nicht das Abenteuer wagen und sich als City klar positionieren und definierte Zielgruppen ansprechen? Warum nicht einzigartig werden und für bestimmte Werte stehen? Warum als Stadt-Marke nicht eine umfassende Brand Experience für neue Besucher:innen gestalten?
Dafür muss sich jede Stadt darauf besinnen, was sie einzigartig macht. Das kann ihr Ursprung sein oder ihre Historie, die Menschen, die sie prägen, oder die Gegend, in der sie liegt.
Werl, Germany
Das rund 31.000 Einwohner zählende Werl positioniert sich beispielsweise als Wallfahrtsstadt und sicherte sich dafür auch gleich den entsprechenden Namenszusatz. Als Wallfahrtsstadt Werl spricht der Ort eine bestimmte Community an und setzt sich mit deren Bedürfnissen auseinander. „Entschleunigen und Wohlfühlen“ lautet das Leitmotto, das sich Werl gegeben hat. Mit Grünflächen und Sitzgelegenheiten macht die Stadt diesen Leitgedanken erlebbar.
Auch Frankfurt am Main hat ein Vision Statement für seine Innenstadt formuliert – sie soll sich vom Funktionsraum zum lebendigen Emotionsraum wandeln. Innenstadtquartieren wurden dafür Eigenschaften zugesprochen. So erhält die nördliche Altstadt das Label „Typisch Frankfurt“ und wird mit den Charakteristika „handmade, inhabergeführt, Genuss der Region, Gastronomie“ beschrieben, die östliche City trägt den Titel „Cosmopolitan“, sie zeichnet sich durch „Internationales Szeneviertel, Kreativlabore, Wohnen“ aus. Alle fünf Innenstadtquartiere haben ihre eigene Zielgruppe und Community zugewiesen bekommen. Sie repräsentieren jeweils einen eigenen Erlebnisort für Freizeit, Kultur und gesellschaftliche Begegnung, aber auch für Gastronomie, Handel und Alltag.
Das setzt voraus, dass die Stadtplaner:innen die Retail-Flächen sorgsam kuratieren und sie mit relevanten Angeboten bestücken. Nicht mehr jede Marke passt auf jede Fläche. Wenn die Innenstadt- und Retail-Marken eng zusammenarbeiten, gewinnen beide: Dann passen die Zielgruppen des Handels mit denen der Citys zusammen und die positiven Effekte verstärken sich gegenseitig. Und dann wissen Sportler:innen und Gourmets, Fashionistas und Outdoor-Fans, Familien, Kulturinteressierte, Tekkies und noch viele andere Zielgruppen genau, wo sie in der Stadt ihre Community und vielleicht sogar ein bisschen Abenteuer erleben können.
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