
Dieses Interview wurde ursprünglich in der letzten Luxus-Sonderausgabe der Fachzeitschrift Textilwirtschaft auf Deutsch veröffentlicht und von LIGANOVA ins Englische übersetzt.
TextilWirtschaft: Frau Leiberg, Sie beobachten für Liganova, welche Trends mit Blick auf Brandmanagement und Kreativstrategien up- and coming oder state of the art sind. Was tut sich aktuell in Sachen Retail und Luxus?
Karin Leiberg: Ein Trend, der uns seit einiger Zeit begleitet, ist die sogenannte Hyperphysikalität. Dabei geht es um Stores oder Pop-ups, die etwas Außergewöhnliches erschaffen und so eine Erfahrung kreieren, die über das Alltägliche, Normale hinausgeht. Diese Stores zeichnen sich durch riesige Installationen, laute Farben oder disproportionale und spielerische Übertreibungen aus. Alles wirkt etwas überzeichnet, ist sehr instagrammable und so erhält der Besucher einen schnellen, intuitiven Zugang zur Story dahinter. Das ist prädestiniert für unsere Zeit, in der wir aufgrund der Reizüberflutung oft nur noch eine geringe Aufmerksamkeitsspanne haben.
Können Sie Beispiele nennen?
Vor allem Luxusbrands sind da sehr innovativ und experimentierfreudig. Jacquemus setzt viele solcher Inszenierungen ein, etwa das Le Bleu Pop-up, die surrealistische Interpretation seines eigenen Badezimmers das er bei Selfridges realisiert hat – ganz in Blau gehalten. Oder Balenciaga, hier wurde der Laden in London komplett in leuchtend pinkem Kunstfell überzogen. Auch Hermès denkt oft out of the box und eröffnet Pop-up-Gyms im Stil des Hauses bis hin zu Medizinbällen im typischen Hermès-Material, um seine charakteristischen Produkte in einem völlig neuen Kontext erlebbar zu machen. Coach hat für einen Store ein Flugzeug nachempfunden. Besonders exemplarisch hierfür ist auch die koreanische Brillenmarke Gentle Monster mit ihren Flächen. Statt Effizienz und Funktionalität schaffen kunstvolle, spielerische Installationen eine neue Dimension des Retails. Da wird der Store zur Kulisse, zur Inszenierung.
Credits: Balenciaga
Was ist die Idee dahinter?
Der Store wandelt sich von der Verkaufsfläche zum Erlebnisraum. Es geht darum, multisensorische Erlebnisse zu schaffen, die eine Flucht aus Alltag und Routine bieten und so die emotionale Verbindung zu den Konsumenten stärken. Die Stores werden zur Bühne, die einzigartige ,money can’t buy‘-Momente kreieren, die ein FOMO-Gefühl erzeugen. Gerade traditionelle Luxusmarken werden dadurch auch nahbarer und für jüngere Zielgruppen wie die Gen Z greif- und erlebbarer.
Wie lässt sich dieser Trend erklären?
Der Trend zur hyper-realen Experience manifestiert sich zu einem Zeitpunkt, an dem die Wissenschaft neue Horizonte der menschlichen Wahrnehmung erschließt. Vor wenigen Jahren wurde der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin an David Julius und Ardem Patapoutian verliehen, die eine Biologie der Sinne erforschten. Über ihre Studien haben wir nun ein besseres Verständnis dafür, wie unser Nervensystem taktile Reize, Wärme und Kälte wahrnimmt. Marken können nicht zuletzt durch diese Erkenntnisse gezielter Emotionen wecken und die Sinne ihrer Kunden im physischen Raum noch bewusster und allumfassender ansprechen.
Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Ein herausragendes Beispiel hierfür sind Googles letzte Präsentationen während der Mailänder Designwoche. Dabei geht es weniger darum, primär eigene Produkte vorzustellen, sondern vielmehr darum, den Besuchern zu zeigen, wie sehr Aspekte wie Aussehen, Gefühl, Duft, Klang, einzigartige Texturen, Farben und Designelemente das Wohlbefinden beeinflussen können. Dieses Konzept wird als Neuroästhetik bezeichnet und wirkt natürlich bei jedem von uns unterschiedlich. Daraus werden sich noch viele weitere Strömungen entwickeln.
Credits: Google
Welche könnten das sein? Nur immer lauter, schriller und schräger kann auf Dauer ja nicht funktionieren. In der Mode haben wir seit ein paar Saisons mit dem Quiet Luxury-Trend eine klare Präferenz für subtiles Understatement.
Das sehen wir auch so. Jeder Trend hat einen Gegentrend. Neben der lebhaften und expressiven Hyperphysikalität gewinnt das Thema Wellbeing im Retail zunehmend an Bedeutung. Wir beobachten einen Trend hin zur Transformation Economy und den zunehmenden Wunsch der Verbraucher, die höchste Ebene von Maslows Bedürfnispyramide zu befriedigen: die Selbstverwirklichung. Gesundheit, Achtsamkeit, Entschleunigung sind Themen, die dabei immer stärker in den Vordergrund rücken. Die Konsumenten sind auf der Suche nach Produkten und Services, die sie bei ihrem Wunsch, sich selbst zu verwirklichen, gesünder und glücklicher zu werden, proaktiv unterstützen können.
Was bedeutet das für innovative Retail-Konzepte?
Die Kunden nehmen Dinge immer stärker auf einer sinnlichen Ebene wahr. Dabei findet eine Verlangsamung der Wahrnehmung statt. Es muss also Räume geben, die eine hohe Aufenthaltsqualität bieten, die eine ruhigere und entspannte Atmosphäre schaffen. Ein wachsender Trend im Retail sind auch Konzepte wie Quiet- oder Silent Shopping-Hours, also bestimmte Zeiträume, in denen keine Hintergrundmusik im Laden läuft und teils nicht gesprochen wird. Diese Entschleunigung durch spezielle Services, schätzen die Konsumenten zunehmend. Digital Detox wird in Zukunft eine bedeutende Rolle im Wohlbefinden aller Altersgruppen spielen und damit auch im Retail. Das Business rund um Retreats sowie in und um Resorts boomt ja bereits.
Wie kann well-being in Bezug auf Shopping aussehen?
Luxury Health sowie Beauty-Services und -Produkte gewinnen weiter an Präsenz mit eigenen Retail-Flächen. Self-Spaces werden vermehrt eröffnet. Marken müssen sich zwangsläufig mit den Wellbeing-Bedürfnissen der Verbraucher auseinandersetzen und Wege finden, diese in ihr Business und ihre Produkte zu integrieren. Die Biogena Brand Base Salzburg ist ein gutes Beispiel für ein modern-futuristisches Health-Erlebnis. Highlight ist hier die Welcome-to-Yourself-Tube, die als Eintritt in den Store die bewusste multisensorische Auseinandersetzung mit der eigenen Gesundheit ermöglicht. Die Hersteller von Nahrungsergänzungsmitteln haben bereits 40 Läden in bester Innenstadtlage europaweit. Oder Supplement Stores und Oxygen Bars, hier tun sich viele neue Felder und Potenziale auf. Dr. Barbara Sturm, die Luxuskosmetik-Marke, hat eine Experience mit Lichttherapie entwickelt, Rituals bietet Spa-Bereiche im Store mit Infrarot-Kabinen. Es geht also stark um individualisierte Erlebnisse und Bedürfnisse. Gesunde Ernährung ist ein weiterer wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang.
Credits: Biogena Brand Base Salzburg
Bars und Gastronomie gibt es ja bereits bei vielen Handelskonzepten. Was ist da jetzt der nächste Schritt?
Food ist der neue Luxus insbesondere für die Gen Z. Die Strategie, Pop-ups, Bars, Cafés und Restaurants zu integrieren, zielt insbesondere darauf ab, Millennials und die Gen Z anzusprechen, die ihre persönlichen Erlebnisse besonders gern auf Social Media teilen. Boutiquen erweitern ihre Flächen um gastronomische Highlights oder eröffnen eigene Pop-up-Konzepte. Große Luxusmarken streben nach Diversifizierung, indem sie ihr Angebot um Bars, Restaurants, Cafés bis zu Hotels erweitern. Das kann der Gucci Garden genauso wie das Flower Pop-up von Prada, der Burberry Restaurant-Takeover, der Hermès-Kiosk oder zuletzt das Rimowa-Café in Mailand sein. Es gibt heute viel mehr Möglichkeiten, wie man Retail lebt.
Welche Möglichkeiten können das noch sein?
Storytelling ist ein wichtiger Aspekt. Traditionelle Luxusbrands wie Gucci, Chanel, Louis Vuitton, aber auch Marken wie Mercedes-Benz oder Porsche verfügen über reichhaltige Archive. Sie spielen stark mit ihrer Heritage und inszenieren ihre ikonischen Produkte wie Kunst mit einem größeren kulturellen Wert. Das entspricht dem Konsumentenverhalten. Denn es findet eine Verschiebung vom reinen Käufer zum Sammler statt. Durch strenge Kuration, Collabs oder Limitierung werden Produkte zu Sammlerstücken und extrem begehrlich. Bei Sneakern sieht man das ja bereits stark.
Also Restaurant, Museum, Bar oder Spa. Das alles klingt teuer und aufwendig. Aber was bringt das für die Marke?
Es zahlt auf die Brand-Diversifizierung ein. Denn letztlich kauft der Kunde längst nicht mehr nur das Produkt, sondern den Lifestyle einer Marke. Deshalb muss ich mich als Brand genauso wie als Händler immer wieder fragen: Wie kann mein Kunde Teil der Marke werden, auch ohne das eigentliche Produkt zu kaufen? Er soll zu mir kommen, weil er Teil der Community sein will. Man muss ein Gefühl der Zugehörigkeit kreieren. Marken können Menschen in bestimmen Interessensgruppen zusammenbringen. Das ist entscheidend.
Wer macht das besonders gut?
Moncler Genius ist interessant als Plattform, die nicht nur Mode präsentiert, sondern die Grenzen zwischen verschiedenen kreativen Disziplinen verwischt. Aber auch die Prada Frames Symposien oder der Miu Miu Literary Club sind gute Beispiele. Solche Initiativen sind ein Zeichen dafür, wie Luxusmarken sich immer stärker auf das Schaffen von Wert durch Erlebnisse und Inhalte konzentrieren. Sie bieten ihren Kunden nicht nur ein Produkt, sondern eine Geschichte, ein Erlebnis und eine Community, die das Markenerlebnis intensiviert und langfristige Bindungen schafft. In aktuellen Retail Formaten liegt der Schwerpunkt vor allem auf diesem Storytelling. Fesselnde Inhalte, Cultural Programming und ein tolles Space Design stehen hier im Fokus.
Credits: Miu Miu Literary Club
Ist Retail heute mehr denn je Community Organizing?
Ja, denn Experience entsteht durch aktive Teilhabe und das Gefühl, dabei zu sein, anstatt nur zu beobachten. Geschichten sind wichtiger als das Produkt, Wissen und Zugang sind wichtiger als Besitz. Aber auch Communitys werden spezieller. Wir beobachten die Weiter-Entwicklung von Nischen-Communitys, Member Clubs und Community Spaces. Auch so genannte Whisper Groups, also eine Art Messenger VIP-Zirkel, in den man nur reinkommt, wenn man dazugehört und dann früher über neue Produkte und Releases informiert wird, sind total angesagt. Solche Formate steigern die Begehrlichkeit.
Das heißt, es geht um noch engere Selektion, Kuration und Individualisierung?
Kuration ist extrem wichtig. Denn es geht in Zeiten des digitalen Overloads noch stärker darum, Informationen und Angebote zu filtern. Man muss lernen, wieder sehr persönlich zu kommunizieren, Nähe zu schaffen. Denn Brand Stores entwickeln sich zunehmend zu Identifikationsräumen für die Community und zu Kollaborationsflächen. Durch kuratierte Inhalte sowie wechselnde Kampagnen und Themenwelten können Marken ein ganzheitliches Erlebnis schaffen, das über bloße Produkte hinausgeht und Neugier auf die nächste Inszenierung weckt. Schließlich geht es darum, Destinationen zu kreieren, die den Kunden individuelle Erlebnisse und personalisierte Services bieten, damit sie einen Anreiz haben, immer wiederzukommen. Denn es geht längst nicht mehr um Abverkauf pro m2 , sondern um Experience pro m3 .
Veröffentlicht in Textilwirtschaft
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