Im Jahr 2019 hat der Blick auf die Zukunft des Retail dystopiche Züge: ein Viertel aller US-Einkaufszentren sind unmittelbar von der Auslöschung bedroht und namhafte Einzelhändler stehen vor der Insolvenz. Gleichzeitig jedoch ver- künden junge Onlineunternehmen die Eröffnung physischer Läden. Einerseits wird der Einzelhandel für tot erklärt, auf der anderen Seite erleben wir plötzlich eine Art Renaissance.
Dieses Vor und Zurück macht die Entscheider im Retail nervös, aber auch ideenreich zugleich, und die erfolgversprechendsten Konzepte wenden sich offenbar alle einem stärker „erlebnisorientierten“ Retail-Ansatz zu, indem sie den Fokus weg von Verkäufen pro Quadratmeter hin zur „Experience pro Kubikmeter“ richten. Was auffällt, ist, dass viele Entscheider sich kaum mit der Implementierung von Experience-Formaten auskennen. Was bedeutet Experience genau, und was unterscheidet eine besonders gelungene Experience von einer langweiligen? Und wie können wir Sie messen, wenn sich die gängigen Auswertungssysteme nur auf Sales KPIs beziehen? Wir haben genauer nachgeforscht.
Was ist Experience?
Unser Ausgangspunkt bestand, ganz im Sinne der heutigen Ganzheitlichkeit, darin, den Fokus nach innen zu richten. Wir befragten 14 unserer Retail-Experten — Architekten, Visual Merchandiser, Strategen, Konzepter von Event-Formaten, digitale Experten und Manager (um den Return of Investment nicht aus den Augen zu verlieren) — was sie meinen, wenn sie über Experience reden. Die umfassenden Interviews führten zu folgender Definition:
Experience ist die bewusste, zeit- und kontextgebundene Interaktion zwischen einem Teilnehmer und einer Marke. Die Experience setzt bei den Teilnehmern subjektive, innere (Wahrnehmungen, Gefühle und Gedanken) und äußere (sichtbares Verhalen) Reaktionen fei. Eine Experience wird multidimensional ausgewertet auf Basis eines sujektiven Vergleiches zwischen Erwartungen und Vorwissen des Einzelnen und den Impulsen, die von Interaktionen mit anderen Teilnehmern, Marken und Räumen ausgelöst werden.
Kurz zusammengefasst, lässt sich aus dieser Definition Folgendes schließen:
1. Experience ist freiwillig.
2. Experience ist interaktiv.
3. Experience ist subjektiv.
4. Experience ist messbar.
5. Experience ist das Management von Erwartungen.
6. Experience ist vielschichtig.
Experience entschlüsselt
Basierend auf den Ergebnissen der qualitativen Interviews entwickelten wir einen Fragebogen, den wir von einer reprä- sentativen Auswahl von 908 Personen ausfüllen ließen. Mit- tels statistischer Methoden verwerteten wir die gewonnenen Daten, um ein messfähiges Experience-Modell zu erarbeiten, mit dem wir Experience zuverlässig in sieben definierbare Dimensionen aufschlüsseln können:
1. Identifikation
Die Experience bietet dem Teilnehmer eine Identifikations- fläche, indem sie seine Werte, seine Meinungen oder seinen Lebensstil reflektiert. Dies kann erreicht werden durch eine Inszenierung des Raums, der Inhaltskomponenten oder der Anwesenden selbst.
Credits: BMW PressClub Deutschland
Der Wunsch, „dazuzugehören“, ist ein grundlegendes menschliches Bedürfnis. Es überrascht daher nicht, dass wir uns gerne mit Menschen, Dingen und Vorstellungen umgeben, die so sind „wie wir“.
2. Convenience
Die Experience liefert den vom Teilnehmer erwarteten Nut- zen, indem sie den ursprünglichen Grund für seine Aufmerksamkeit befriedigt. Dies kann erreicht werden durch das Bereitstellen von Information, das einfache Zugänglichmachen von Produkten oder Dienstleistungen oder das eher abstrakte Befriedigen emotionaler Bedürfnisse.
Credits: Dezeen
Es gibt in der Regel einen Grund, warum Menschen bestimmte Orte besuchen. Damit dieser wirklich als „convenient“, also einfach und bequem, erlebt wird, sollte das Erfüllen der Bedürfnisse so einfach wie möglich gemacht werden.
3. Sensorisch
Die Experience übermittelt dem Teilnehmer stimmige sensorische Eindrücke, indem sie seine Sinne in einer orchestrier- ten Weise stimuliert. Dies kann durch eine harmonische oder überraschende Kombination von visuellen, akustischen, taktilen, olfaktorischen oder gustatorischen Reizen geschehen.
Credits: Dezeen
Der sensorische Aspekt einer Experience wird oft als „multisensorische Wahrnehmung“ verstanden. Wir jedoch verstehen darunter weniger das Ansprechen so vieler Sinne wie möglich als vielmehr das Ansprechen dieser Sinne auf koordinierte Weise — oder anders ausgedrückt: eine harmonische sensorische Synthese der Künste.
Credits: Dezeen
4. Selbstbestimmte Teilnahme
Eine Experience bietet dem Teilnehmer die Gelegenheit, aktiv und selbstbestimmt Teil des Geschehens zu werden, in- dem sie die Interaktion mit Menschen, Marken und Räumen ermöglicht. Dies kann auf soziale, technische oder körper- liche Art geschehen.
Eins gilt es zu beachten: Experience ist freiwillig und nicht jeder möchte ins Zentrum der Aufmerksamkeit gezogen wer- den. Demzufolge kann sogar das rein passive Beobachten vorbeiziehender anderer Besucher für sich als Experience gewertet werden.
Credits: Nike
5. Emotionalität
Eine Experience verschafft dem Teilnehmer langfristig ein positives Gefühl, indem sie ihn emotional anspricht. Ermög- licht wird dies etwa durch Inhalte, Inszenierung und soziale Aspekte, wobei dem Anschein nach negative Gefühle kurzfristig durchaus Teil des Konzepts sein können.
Credits: House of Vans London / Not Waving, But Drowning — An Album Launch by Loyle Carner / Mike Palmer @Mikepalmerphoto
Emotionalität ist wahrscheinlich einer der ersten Aspekte, die uns einfallen, wenn wir an Experience denken. Viele unserer Experten waren ebenfalls der Auffassung, dass es am Ende immer darauf ankommt, beständige Emotionen auszulösen. Experience schafft Erinnerungen und versorgt uns mit Ge- schichten, die wir später erzählen können. Die Beispiele sind vielfältig: denken wir nur an das House of Vans (der US-ame- rikanischen Sportschuh-Marke Vans) in London, das als Orga- nisator und Präsentator von Konzerten, Kunstausstellungen und natürlich hochemotionalen Experiences rund ums Skate- boarden agiert.
6. Authentizität
Eine Experience wirkt auf den Teilnehmer durch das authentische Design ihrer Inszenierung und ihres Inhalts glaubwürdig. Dies wird erreicht durch den Bezug auf die Werte einer Marke, die Expertise der Beteiligten wie auch den physischen und digitalen Kontext.
Credits: Noah Haxel, Granfondo Cycling Magazine
Eine positive Experience wird es nur geben, wenn die Besucher den Eindruck haben, dass das, was sich abspielt, auch glaubwürdig ist.
7. Kognitive Inspiration
Eine Experience inspiriert den Teilnehmer kognitiv, indem sie Inhalte und Blickwinkel vermittelt, die für seinen oder ihren Lebensstil von Bedeutung sind. Dies kann anhand der Inhalte selbst oder durch ihre Aufbereitung geschehen.
Credits: Apple
Hier geht es nicht darum, Besucher zu (über-)fordern. Vielmehr sollen in ihnen neue Ideen und Blickwinkel angeregt — mit anderen Worten: sie inspiriert — werden. Apple verfolgt diese Strategie seit 2018 mit dem Programm „Today at Apple“. Dort werden regelmäßig stattfindende Vorlesungen, Weiterbildungen und Workshops angeboten, um Kunden hinsichtlich verschiedener Lifestyle-Themen zu inspirieren und gleichzeitig die Marke ins Gedächtnis zu rufen.
Wie geht es weiter mit Experiences?
Nun, da wir uns ein besseres Bild machen können, woraus sich Experience zusammensetzt und wie wir sie messen können, sind wir nicht nur in der Lage zu erfassen, ob eine Marken-Experience — Messe, Event, Retail-Konzept usw. — funktioniert, sondern auch warum sie es tut oder nicht. Dies ist ein maßgeblicher Schritt auf dem Weg zu einem neuen, mehr erlebniszentrierten Retail-Paradigma.
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